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Analysis Paralysis

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, einen Artikel über dieses Thema zu schreiben und dann nicht zu wissen, wie man am Besten anfängt. Beginnen wir also mit einer Definition: Analysis Paralysis ist das Gefühl der überwältigenden Unschlüssigkeit, für welche der vielen denkbaren Möglichkeiten man sich entscheiden sollte. Vielleicht kennt ihr die Bezeichnung nicht, aber das Gefühl ist euch vermutlich wohlvertraut, möglicherweise vom Betrachten euer Steam Library. So viele noch ungespielte, aber hochgelobte Produkte, so viele Zeugen des Mangels an Selbstbeherrschung bei Schlussverkäufen, diese ganze Masse aus Mussichnochs, Wolltichschonlanges und Warbilligs. Hin- und hergerissen, unschlüssig wie ein Anfang, entscheidet man sich schlussendlich öfter als nicht für a.)irgendwas, was man schon hundertmal gespielt hat, b.) ein Match-3 aufm Telefon oder c.) sinnlos im Internet rumklicken.

Warum ist das so? Keine Ahnung, recherchier selber. Als ob ihr mir psychologisches Fachwissen abkaufen würdet! Fakt ist aber, dass sich die meisten Menschen von zuviel Möglichkeiten schlicht überfordert fühlen (wobei das “zuviel” natürlich von Person zu Person variiert), was natürlich im Bereich Spiele nicht nur extrinsisch passiert wie bei obigen Steambeispiel oder Einkaufen im Appstore, sondern auch in den Spielen selbst. Dafür muss man nicht einmal die komplexeren Randgebiete dieses unseres Hobbies als Beispiel heranziehen (Wargames, Simulationen, Just Dance): Nehmen wir ein aktuelles FIFA. Ich spiel seit über 25 Jahren Videospiele, aber seit Microprose Soccer kaum noch im Teamsportbereich (ausgenommen jene, die IN EINER BRUTALEN ZUKUNFT(TM) spielen). Daher kann ich sicher nicht für alle sprechen, wenn ich sage, dass allein schon die Tastenbelegungsübersicht mir Angst macht. Und dann: Oh shit, nochmal soviel, wenn ich nicht den Ball hab? Okay, okay, wird schon irgendwie klappen. Mannschaft? Na gut, nehmen wir halt irgendeine – Ach kacke, ich kann auswechseln? Die Spieler haben alle Werte? Ich kann Taktiken bestimmen? Argl.

Der Grund dahinter ist klar: Sportspiele richten sich primär an Sportfans, Leute, die sich intensiv mit der Materie beschäftigen, und streben ein Ideal an, dass alles, was auf dem Spielfeld passiert, mit dem Controller reproduzierbar ist. Und meine Herren, man kann eine ganze Menge mehr mit so einer ollen Lederkugel machen außer nur aus Versehen rauftreten und hinfallen. Also, andere vielleicht.

FIFA ist aber ja kein Einzelfall: AAA-Titel sind heute komplex wie nie, gefüllt mit Optionen, Möglichkeiten, Modi, Werten, Objekten, Rewards, Achievements, Skills und Boosts. Bei manchen Spielen kam ich nicht über den Charaktereditor hinaus, eben weil mich die Anzahl an Möglichkeiten schier einschüchterte. Während Spieler versuchen, der erdrückenden Vielfalt mittels Guides, FAQs und Let’s Plays Herr zu werden, arbeiten Entwickler daran, uns möglichst sanft in die Materie einzuführen – entweder, so wie das oben erwähnte FIFA, durch einen BabyähmClassicmode, der die komplexe Steuerung auf drei Knöpfe runterkocht, oder, in dem sie uns nur peu á peu an den Content lassen, was die mittlerweile allgegenwärtigen Rollenspielelemente erklärt. Selbst ein ansonsten superentschlacktes Jump’n’Bonk wie Bit.Trip Runner 2 gibt die erst nach und nach Zugang zu den möglichen Moves (sowie den Hindernissen, für die diese benötigt werden), eben um den Spieler nicht gleich von Beginn an abzuschrecken.

Das alles führt aber zu einem Scheißteufelskreis, in dem Entwickler mich dazu zwingen, mich für Perks zu entscheiden, bevor ich irgendeine Ahnung habe, wie das Spiel überhaupt funktioniert, weil sie davon ausgehen, dass ich eh online nachgucken kann, was für meinen gewünschten Spielstil am schlauesten wäre, aber gleichzeitig verhindern wollen, dass ich mich in eine Sackgasse verskille und daher das Spiel so leicht machen, dass die ganze Komplexität eigentlich wieder fürn Arsch ist, weil sie fürs Durchspielen eh nicht nötig ist. Die Bedeutung meiner Entscheidungen nichtig zu machen frustriert mich aber eher, als dass es mir die Entscheidung leichter macht. Früher(TM) lernte man halt auf die harte Art, was funktioniert, indem man immer wieder von vorn anfing – aber wer hätte darauf noch Lust in einer Welt voller nicht abbrechbarer Cutscenes und unüberspringbarer Tutorials?

Oder, anderes Beispiel: Ich habe gestern zwei relativ aktuelle Fighter angespielt (Dead or Alive 5, Soulcalibur 4). So nachvollziehbar und schnell erlernbar die grundlegende Tastenbelegung hier auch ist, schrecken mich die Movelists doch stets vom ernsthaften, übers Buttonmashing hinausgehenden Spielen ab: Aberdutzende von Schlägen, Tritten, Würfen, Spezialangriffen, Kontern, abhängig von Position, Körperhaltung, und Aszendent, mit jeweils unterschiedlichen Werten für Schaden, Trefferzone und Zusatzwirkungen – und das alles multipliziert mit der Anzahl der spielbaren Charaktere. Lange war es mir schleierhaft, wie man, wenn man die Serie nicht schon über Jahre verfolgt und lediglich die paar Änderungen pro Nachfolger neu lernen muss, jemals herausfinden soll, welcher Charakter einem am besten liegt, wie man mehr als die paar Standardangriffe aus ihnen herausholt, das Ganze möglichst auch noch gewollt und nicht dem herumrutschenden Gamepaddaumen geschuldet, so dass man wirklich das Gefühl hat, diese Figur auf dem Schirm zu kontrollieren. So fröhlich es mich auch macht, dass die Reproduktion von etwas so Simplen wie zwei Menschen, die sich auf die Fresse hauen, zu einem der forderndsten und komplexesten Genres auf dem Markt aufsteigen konnte, war die schiere Masse an Möglichkeiten für mich doch immer zu abschreckend.

Aber gestern hatte ich eine Erkenntnis in diesem Bereich, eine, die, wie ich hoffe, auch in anderen Situationen der Analysis Paralysis nutzbar ist. Denn die Movelists sind keine Aufgabenliste, die ich alle bewältigen muss, um ein Häkchen hinter den Charakter setzen zu können, sie sind keine Puzzleteile, die ich allesamt an die richtige Stelle legen muss, um das Bild dahinter begreifen zu können. Es sind schlichtweg Möglichkeiten. Der einzige Vorwurf, den sich Fighter stellen müssen, ist der, dem Spieler all seine Möglichkeiten von Beginn an aufzuzeigen, ohne ihn darauf hinzuweisen, dass ein Großteil von ihnen auf dem Niveau, auf dem Leute wie ich spielen, schlichtweg nicht nötig sind. Ich muss keinen Wurf (mit dem Rücken zur Wand, links vom Gegner, während er einen Low Kick macht) lernen, wenn in den paar Stunden, in denen ich das spielen werde, diese Situation niemals auftreten wird, da ich weder in der Lage bin, das Kampfgeschehen dergestalt zu steuern, dass ich in ebendieser Position lande, noch mich dann an die verdammte Tastenkombination zu erinnern. Ich plansche im Kinderbecken, das braucht man im Marianengraben.

Also vergesse ich das einfach. Wähle eine Figur, zur Not per Randomizer, such mir zwei, drei leichte Combos, ein paar Spezialattacken, und spiel einfach. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass ich auch so Erfolg haben werde (sofern ich den Schwierigkeitsgrad moderat lasse), und, viel wichtiger: Wahrscheinlich hab ich Spaß dabei, weil ich das Gefühl habe, gezielt spielen zu können. Reduktion. Und sobald ich an einen Punkt gelange, an dem ich mit meinen Moves nicht mehr gewinne, sind sie mir im Idealfall schon so ins muscle memory übergegangen, dass ich ein paar weitere hinzufügen kann. Spiele wie Sprachen lernen.

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What could have been…

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