Es muss so 1990 gewesen sein, als ich mit 11 Jahren beim Raststättenbushalt auf der Klassenfahrt etwas erwarb, dass mein Leben bis heute, aber richtig richtig doll für die nächsten zehn, zwölf Jahre prägen sollte: Mein erstes Marvelcomic. Genauer gesagt so ein Condor-MARVEL-MAXI-Pocket, für das einfach zwei normale Taschenbücher zusammengeleimt wurden (gerne auch verschiedene, die dann mit dem gleichen Cover verkauft wurden), und es ging um die Fantastischen Vier. Natürlich kannte ich Superhelden von den Auslagen des Bahnhofskiosks und der Batmankinofilmplakatwerbung, dessen Logo ich lange nicht recht entziffern konnte weil ich dachte, das Goldene wäre relevant (ein M und zwei Zähne?), aber gelesen hatte ich bisher nur Phantomias, wo ich demnach die ganzen Anspielungen auch null verstand.
Nichts verstehen tat ich auch hier: Anstatt der versprochenen Vier waren es sechs Helden, aber zwei waren im Ruhestand, doch nicht so richtig, und wer waren die grüne Frau und die Steinfrau? Und jetzt ist der orangene Klotz plötzlich ein Mensch, aber auf einem anderen Planeten, häh? Nicht nur wurde ich in eine mir komplett fremde Welt geworfen, direkt in medias res einer Geschichte, die seit über 30 Jahren lief, sondern auch an verschiedene Punkte auf dem Zeitstrahl, dank der Veröffentlichungspolitk des Condorverlags, ihre Taschenbücher mit Stories aus verschiedenen amerikanischen Comicreihen zu füllen, die nicht zwingend parallel liefen.
Aber das, was mich heute abschrecken würde, weckte in dem kleinen Hendrik eine bisher ungekannte Faszination: Das Entdecken einer Welt, die so viel interessanter war als die echte, bestückt mit Anspielungen und Bezügen auf Ereignisse und Personen, von denen ich noch keinen Schimmer hatte, aber deren Kennenlernen für die nächsten Jahre meine Lebensaufgabe werden sollte. Heute könnte ich einfach die Marvelwikis durchforsten oder dank Digitalisierung chronologisch alte Serien Heft für Heft lesen, aber damals und mit den geringen Mitteln von 1,50 DM Taschengeld in der Woche (supermerkwürdig, das heute zu schreiben, wo ich locker das Zehnfache davon zur Verfügung habe!) hieß das, die diversen Second-Hand-Comicläden meiner Heimatstadt abzuklappern und so viel Material zu sammeln, bis zumindest manches darin Sinn ergab. Weil ich noch ein Kind war, brauchte ich keine Pinnwände, um Zusammenhänge, Bezüge und Folgen zu katalogisieren, das passierte alles in meinem noch flexiblen Gehirn (ich mache Marvelcomics und Magickarten dafür verantwortlich, dass ich in der 11. Klasse plötzlich außerstande zu sein schien, eine neue Fremdsprache zu lernen): Marvelcomics waren meine Dinosaurier, meine Pokemon.
Ich kaufte so viel ich konnte, und im Laufe der Zeit wuchs das alles zu einer nie kompletten, aber umfangreichen Menge an bedrucktem bunten Papier an. Doch als ich auf einem Rollenspielcon (jetzt schon ein paar Jahre später) die deutsche Ausgabe (Schmidt-Spiele!) des Marvel-Superhelden-Rollenspiels ersteigerte, schaltete die Begeisterung noch einen Gang hoch:
Nicht nur konnte ich endlich meine Freunde auch für meinen Superheldenkrams begeistern, nicht nur bekam ich wieder einen ganzen Haufen Helden und Schurken geliefert, von denen ich nie gelesen hatte, sondern ich hatte endlich konkrete Zahlen, wer jetzt wirklich wie stark, schnell und schlau war! Spider-Man kann, wenn er sich anstrengt, 10 Tonnen heben, der oben genannte orangene Klotz sogar 75 und Thor gar 100! Reed Richards ist schlauer als Bruce Banner! Und die Tatsache, dass ich nichts davon nachschlagen musste, obwohl ich mich seit 20 Jahren nicht mehr wirklich mit der Materie beschäftigt habe, bekräftigt meinen Spanischvorwurf, finde ich.
Bei einem Familienurlaub in Großbritannien entdeckte ich, dass es als Quellenbücher für das Rollenspiel alphabetisch sortierte Superhelden/schurkenkompendien gab, und obwohl mein Englisch damals noch recht brüchig war, konnte ich diesem Katzenminzeäquivalent für junge Nerds nicht widerstehen und las das alles so oft, bis ich es irgendwann verstand. An dieser Stelle sollte ich vielleicht einfügen, dass ich Zeit meines Lebens stets Nachschlagewerke diverser Coleur von vorne bis hinten durchgelesen habe, so dass der Mangel an Kontext, an tatsächlichem Comicinhalten wie Handlung oder mehr als ein Bild pro Seite mich in keinster Weise störte. Es ging hier auch nicht um Unterhaltung, es ging um Wissen!
Die Tragik der meisten ungestümen Begeisterungen ist ja, dass sie irgendwann nachlassen, und das war auch hier der Fall. Als ich älter wurde, hatte ich mehr Geld für Comics, aber es stellte sich leider heraus, dass ich die Sachen der späten 90er und frühen 2000er gar nicht so dolle fand. Und irgendwann im Studium zwang das Portemonnaie mich dann, einen harten Schnitt zu ziehen, was aufgrund der Einsicht, dass ich den ganzen Kram hauptsächlich nur aus Gewohnheit kaufe, nicht so schwer fiel. Umso schöner war es, in den letzten 10 Jahren oder so zu entdecken, dass meine Begeisterung durch das Marvel Cinematic Universe wieder ein bißchen hochkochte, teils sicherlich, weil ich viele der Comicvorlagen der Figuren und Prämissen kenne, und diese kurzen Freudenmomente von “Ach, das soll der sein!” und “Haha, das ist witzig weil…” genieße ich sehr.
Egal, eigentlich schreib ich das alles hier nur, weil ich vor Kurzem seit langer Zeit mal wieder durch eines der eingangs erwähnten MAXI-MARVEL-Taschenbücher blätterte, diesmal eins der New Mutants, einem Ableger der X-Men mit sehr jungen Helden, die ich stets sehr mochte, und was mir auffiel war Folgendes: Alter WTF, was geht denn mit der Übersetzung? Ich meine, ich war mir damals schon sicher, dass die häufigen Anspielungen auf den Film Bad Taste und das Bier Hacker-Pschorr auf dem Mist der Übersetzer gewachsen war, aber worüber ich nie nachdachte, war, dass die Originale im normalen Comicformat und handgelettert waren, die Taschenbuchvarianten aber nur knapp halb so groß und mit klobigen Druckbuchstaben geschrieben (sorry, lieber Schriftsetzer, mir fehlt hier das richtige Vokabular), demzufolge der Text halt massiv gekürzt werden musste, und der wenige Resttext, der blieb, wurde dermaßen über alle Sprech- und Gedankenblasen und Tetboxen gestreckt, dass auf der einen zufällig ausgewählten Doppelseite, die gerade neben mir liegt, 14 Ellipsen zu finden sind. Hier mal zwei Beispiele, direkter Vergleich Original und Übersetzung:
Da fehlen popkulturelle Anspielungen, die Eloquenz des Alienqueenripoffs geht weitestgehend verloren und inhaltlich stimmt da auch einiges nicht im ersten Bild. Ich will den armen Übersetzern gar keine Vorwürfe machen, aufgrund der Rahmenbedingungen hatten sie ja nun wirklich nicht die Möglichkeiten. Im Gegenteil: Ich finde es ungemein beeindruckend, dass sie mit so geringen Mitteln dafür sorgen konnten, dass ich als kleiner Kerl nicht nur der Handlung einigermaßen folgen konnte, sondern auch Sympathien für diese Figuren entwickeln konnte, obwohl so viel auf dem Weg verloren ging. Ich hab die gesamte Geschichte, aus der die Beispiele sind, in beiden Versionen gelesen, und natürlich ist die Vollversion besser, natürlich kriegt man viel tiefere Einblicke in das, was die Figuren fühlen und denken, aber im Großen und Ganzen geht auf Verständnis- und emotionaler Ebene weit weniger verloren, als ich anfangs dachte. Klar, einen großen Einfluss darauf haben natürlich auch die Zeichnungen, aber trotzdem.
Jedenfalls hab ich beim Versuch die Seiten einzuscannen aus Versehen eine Schwarzweißkopie hiervon gemacht
und das Monster hier unten links gesehen und gedacht: “Huh, wenn man das ausschneidet und links neben einen schlimmen Hot Take platziert…” und jetzt will ich ein Fanzine machen.